Herbstexkursion in die Normandie
Fußgängerbrücke über das „Bassin du Commerce“ in Le Havre, erbaut 1969 (Foto: Dieter Kebben)
Im Jahr 2016 besuchten wir während unserer alljährlichen Herbstreise das wunderschöne Elsass mit Straßburg, Colmar und Weinorten, die in eine liebliche Landschaft eingebettet sind. In diesem Herbst stand Frankreich erneut auf unserem Reiseplan, nun aber deutlich weiter nordwestlich am rauen, von stürmischen Winden umtosten Ärmelkanal. Bevor wir diesen am Samstagmorgen mit unserem Reisebus über Venlo, Maastricht und Lüttich auf spärlich befahrenen Autobahnen erreichten, legten wir in Amiens, dem wichtigsten Verkehrsknotenpunkt im Norden Frankreichs, Hauptstadt des Departements Somme, einen Zwischenstopp ein. Diesen nutzten wir für eine ausführliche Besichtigung der aus dem 13. Jahrhundert stammenden größten gotischen Kathedrale Frankreichs, Notre Dame d`Amiens. Sie gehört zu den klassischen Kathedralen der Hochgotik und diente als Vorlage für den etwas später begonnenen Bau des Kölner Doms. Im 2. Weltkrieg wurde die Kathedrale nicht zerstört.
Während des anschließenden Rundgangs durch das romantische Quartier Saint Leu bestand Gelegenheit für einen kleinen Imbiss.
Nach der Weiterfahrt durch eine abwechslungsarme leicht hügelige Landschaft erreichten wir am Spätnachmittag Le Havre am Ufer der Seine, die hier in den Ärmelkanal mündet. Le Havre besitzt nach Marseille den zweitgrößten Hafen Frankreichs mit Sitz zahlreicher Firmen der Erdölindustrie.
Unser Hotel, Quartier für alle Ausflüge der nächsten Tage, lag „mit eigener Straßenbahnhaltestelle“ direkt gegenüber des Hauptbahnhofs. Etwas erschöpft von der recht langen Anreise blieb wenig Zeit für eine Erfrischung. Das erste leckere französische Menü wartete kurz danach auf uns.
Bereits am nächsten Morgen stand einer der Höhepunkte unserer Reise auf dem Tagesprogramm, die Besichtigung der „Pont de Normandie“. Bei der Anfahrt zu dieser mit 856 m Spannweite größten Schrägseilbrücke Europas lag das gesamte Tal der Seine noch unter einem dicken Nebelkissen. Die beiden 203 m hohen Brückenpylone waren trotzdem von weitem zu sehen, weil sie die Nebeldecke überragten. Im Informationszentrum bestand Gelegenheit, sich über die Planung und den Bau der imposanten Brücke zu informieren. Wegen dieser Ausstellung dient das Bauwerk nicht allein verkehrlichen, sondern auch touristischen Zwecken.
Die einschließlich der Vorlandbrücken 2141 m lange Brücke überspannt die Mündung der Seine zwischen Le Havre im Norden und der alten Hafenstadt Honfleur im Süden. Die Durchfahrtshöhe für Schiffe beträgt bei dem höchsten bekannten Wasserstand 52 m. Damit auf der Brücke Fahrzeuge aller Art sowie Radfahrer und Fußgänger die Seine queren können, ist sie nicht als Autobahn eingestuft.
Von der Seine fuhren wir weiter nach Westen bis Caen, die kulturelle Mitte der Basse-Normandie und Hauptstadt des Departements Calvados. Die Wurzeln der Hafenstadt am Fluss Orne reichen bis in die Römerzeit zurück. Wilhelm der Eroberer ließ hier auf einem Hügel eine Burg und gleichzeitig ein Männer- und ein Frauenkloster bauen. Nach der Landung der Alliierten war die Stadt heftig umkämpft und wurde durch Bomben fast vollständig zerstört. Der Wiederaufbau dauerte bis 1962. Heute ist Caen eine bedeutende Universitätsstadt.
Etwa 30 km westlich von Caen besuchten wir die kleine Stadt Bayeux. Diese ist durch einen im Mittelalter entstandenen Stickteppich bekannt, auf dem in einer Länge von etwa 68 m in vielen Einzelbildern die Eroberung Englands in der Schlacht von Hastings im Jahr 1066 durch den Normannenherzog Wilhelm den Eroberer detailreich dargestellt ist. Der Teppich liefert zahlreiche Aufschlüsse über das Leben im Mittelalter und ist deshalb Teil des UNESCO-Programms „Memory of the World“.
Die Küsten des Ärmelkanals waren auch in den späteren Jahrhunderten immer wieder Schauplatz von Kriegen. Mit der Landung der Alliierten am 06. Juni 1944 (D-Day) auf einem 80 km langen Küstenstreifen in der Seine-Bucht begann die Entscheidungsschlacht des 2. Weltkriegs. Bei unserem Besuch im „Musee du débarquement“ in Arromanches-les-Bains (Strandabschnitt „Golden Beach“) sahen wir in Filmen, Bildern und Erinnerungsstücken, welche Opfer viele Länder für diesen Krieg erbringen mussten.
Den Morgen des 3. Reisetages widmeten wir Le Havre, der größten Stadt der Normandie. Auch sie wurde im 2. Weltkrieg nahezu vollständig zerstört. Unsere mit den Sehenswürdigkeiten in der Normandie unglaublich vertraute Gästeführerin aus Lüneburg führte uns bei unserem Stadtrundgang zunächst vom Hotel aus über den Boulevard de Strasbourg bis zum Rathaus und von dort weiter über die Rue Foch. Hierbei konnte sie an den meisten Gebäuden zeigen, welche Ideen der in Belgien geborene Stadtplaner und Architekt Auguste Perret mit seinen 60 weiteren Architekten beim Wiederaufbau bis 1954 verwirklicht hat. An rechtwinklig zueinander angeordneten breiten Straßenzügen hat er das zu 80 % durch alliierte Bombardements zerstörte Stadtzentrum wieder aufgebaut. Unter Verwendung des Trümmerschutts wurde eine beispiellose Betonarchitektur geschaffen, die zum UNESCO Weltkulturerbe zählt. Selbst die höchste Kirche Frankreichs, die hier gebaut wurde, besteht ohne Kompromisse aus Beton.
Als Kontrast zu den streng rechtwinkligen geraden Formen des Auguste Perret besitzt Le Havre seit 1982 von einem anderen Meister des Stahlbeton, nämlich Oscar Niemeyer, dem Schöpfer Brasilias, ein zweites UNESCO Weltkulturerbe: Das Stadttheater im „Vulkan“ überrascht durch eine sanft geschwungene riesige hyperbolische Hülle, deren Statik mit einem Programm der NASA berechnet wurde. Auch die benachbarte Fußgängerbrücke über ein Hafenbecken gehört sicherlich zu den sehenswerten Ingenieurbauten.
Das großzügig dimensionierte Straßennetz bot der Stadt Le Havre die Möglichkeit, im Jahre 2012 zwei insgesamt 13 km lange moderne Straßenbahnlinien zu eröffnen. Sie fahren in der HVZ im 6-Minuten-Takt. Während bei uns in einzelnen Städten des Ruhrgebiets trotz Dieselskandals ernsthaft über die Stilllegung von Straßenbahnlinien diskutiert wird, haben in Frankreich etwa 20 Städte unterschiedlichster Größe die Straßenbahn als umweltfreundliches Verkehrsmittel seit Ende der 1990er-Jahre mit großem Erfolg neu gebaut und eingeführt.
Auch Rouen, die Hauptstadt der Normandie, besitzt seit 1997 ein Y-förmiges Straßen-/U-Bahnnetz mit 15 km Länge und 31 Stationen. Die Zugfolge liegt teilweise bei 5 Minuten. Im Mittelpunkt unseres Besuchs standen jedoch die gotische Kathedrale mit den nie vollendeten beiden Kirchtürmen, von Monet sehr oft gemalt, und die erst 1979 eingeweihte moderne Kirche, die der Hl. Jeanne d ´Arc gewidmet ist. Das Dach der Kirche ist einem umgekehrten Schiffskiel nachempfunden.
Dritthöchstes Bauwerk Rouens ist mit 86 m die Gustave-Flaubert-Brücke über die Seine. Die Durchfahrtshöhe des 100 m langen Mittelteils kann von 10 m auf 55 m angehoben werden. Damit ist sie die höchste Hubbrücke der Welt.
Am 4. Reisetag besuchten wir bei Nieselregen zunächst das Städtchen Fécamp an der Kreideküste. Der Regen störte uns nicht, denn in der ehemaligen Benediktinerabtei besichtigten wir das Museum religiöser Kunstwerke und lernten dann in der Destillerie, dass der von Mönchen erfundene weltberühmte Likör Bénédictine seit etwa 150 Jahren aus 27 verschiedenen Kräutern hergestellt wird. Das Rezept wurde uns nicht verraten, was der Schreiber dieses Berichts allerdings nach der Verkostung nicht bedauert.
Von Fécamp aus fuhren wir entlang der berühmten Alabasterküste, deren Klippen aus weißer Kreide bestehen, in den kleinen Badeort Étretat. Die Meereswellen haben dort mit Hilfe des Winds und des starken Tidehubs bizarre Felsformationen erzeugt. Bekannt wurden die Kreidefelsen u.a. durch zahllose Bilder Claude Monets.
Wir verließen nachmittags die Alabasterküste und querten nochmals die Seine über die „Pont de Normandie“, um in das vom Tourismus geprägte ehemalige Hafenstädtchen Honfleur zu gelangen. Die malerische Stadt lebt fast ausschließlich vom Tourismus.
Viele heute berühmte Maler haben hier einst den Impressionismus erfunden. Die pittoresken Häuser rund um den Hafen, die von Schiffszimmerern erbaute alte Holzkirche und der reiche Blumenschmuck machen Honfleur sehenswert.
Am letzten Tag unserer Reise stand trotz der langen Rückfahrt ein Besuch von Claude Monets Wohnhaus und seiner Gärten in Giverny auf dem Programm. Nach Jahren mit finanziellen Problemen war Monet wohlhabend geworden, so dass er seinen Garten durch Zukäufe vergrößern konnte. Viele seiner Bilder zeigen Motive aus diesen Gärten, häufig den Seerosenteich im Wassergarten. Trotz der späten Jahreszeit blühten noch zahlreiche Blumen.
Dem Abschied von Giverny folgte eine lange, anstrengende Rückfahrt mit Staus infolge eines lückenlosen LKW-Verkehrs auf einer Autobahn-Teilstrecke zwischen Paris und Calais sowie in der Wallonie zwischen Charleroi und Lüttich.