Reiseberichte

Auf den Spuren des deutschen Ordens

von | April 2013 | Reiseberichte

Der Tallinner Dom in der Abenddämmerung (Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Reiterstandbild von Frederik V. in Kopenhagen

Das Reiterstandbild von Frederik V. in Kopenhagen steht in der Mitte des achteckigen Platzes vor dem Schloss Amalienborg
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Wie nur, frage ich mich, wie nur könnte ich den jungen Leuten, die sich in meiner Nähe befinden, verständlich machen, dass sich gerade Wunderbares ereignet? Zugegeben: Das Äußerliche ist unspektakulär. Ein diesiger, grauer Tag ist heraufgezogen, die Stadt, deren Hafen wir verlassen haben, verschwindet rasch hinter einem Dunstschleier. Die kaum bewegte Oberfläche der Ostsee schimmert wie mattgraues Metall, schon in geringer Entfernung wird ununterscheidbar, was noch Wasser und was schon von der Nässe geschwängerte und trübe gemachte Luft ist. Gegen den undeutlichen Horizont hebt sich als einzig starker Farbkontrast die schwedische Flagge ab, die das Schiff führt. Es fährt ruhig, dank des fehlenden Seegangs; mit geschlossenen Augen könnte man genauso gut in einem auf guter Straße über’s Land fahrenden Bus sitzen und würde keinen Unterschied merken. Das stimmt mich, den im Gebirge aufgewachsenen Landmenschen, eigentlich froh – der Wasser zwar schnell fließend, aber zumeist mit einem einzigen großen Schritt überquerbar kennengelernt hat. Und der jetzt, umgeben von so viel Wasser, salzigem obendrein, anfangs doch ein wenig beklommen war, den eigenen Magennerven nicht ganz trauend. Doch deren »Seefestigkeit« bleibt ungeprüft, die eigens beschafften einschlägigen Kautabletten im Rucksack verstaut, mir die allfälligen Peinlichkeiten der Landratte mit grünem Gesicht erspart …

Es gibt also nichts, das mich davon abhalten würde, meinen Gedanken nachzuhängen. Auch meine Mitreisenden sind wohl froh ob der ruhigen Überfahrt, denn wir sind früh aufgestanden, um das erste Schiff des Tages hinüber zu unserem nächsten Etappenziel zu erreichen. Und wir haben noch ein ambitioniertes Besichtigungsprogramm vor uns, so ist die Atempause willkommen. Ganz unaufregend, »normal« also – und doch wunderbar.

Das Wunderbare aber an dieser Normalität ist nicht ganz leicht zu erklären, jedenfalls nicht gegenüber den jungen Mitreisenden – gerade denen aber müsste man’s, müsste ich es erklären. Denn das würde ihnen womöglich helfen, die Welt, in der sie aufwachsen, besser schätzen zu lernen – und man muss etwas für schätzenswert halten, um bereit zu sein, es nötigenfalls zu verteidigen. Aber wie erkläre ich es nur, wie? Genauso einfach oder vielmehr schwierig wäre es, diesen jungen Leute, von denen sich offensichtlich die meisten vorrangig für das riesige Angebot des Duty-free-Shops an Bord interessieren, zu erklären, warum meine Kindheit gewissermaßen medial privilegiert verlaufen ist. Denn wir konnten zuhause vier – ja wirklich! – vier Fernsehprogramme empfangen. Da war ich meinen neidvollen Cousinen und Cousins voraus, denn wir konnten dank der Lage meines oberbayerischen Heimatortes unweit der österreichischen Grenze auch ORF 1 empfangen, nicht etwa nur die drei bundesrepublikanischen öffentlich-rechtlichen Programme. Sendeschluss – wieder so eine unbekannte Vokabel für die jungen Leute von Heute – machten freilich alle vier Programme, wochentags spätestens kurz nach Mitternacht. Und dieser merkwürdig unangenehme Pfeifton hielt einen davon ab, das folgende, ohnehin öde »Testbild« allzu lange sinnlos anzustarren. Eine ferne Welt heute, da die Smartphones in den Taschen der jungen Leute diese in die Lage versetzen, jederzeit jedes elektronische Medium zu konsumieren und alle ihre facebook-Freunde in der ganzen Welt ständig mit neuen »posts« auf dem Laufenden zu halten. Wer twittert gerade: »Stellt Euch vor: Bin heute morgen in Tallinn an Bord der Fähre nach Helsinki gegangen und wurde nicht kontrolliert!!!« Niemand natürlich, das ist klar. Darin, dass das eben niemand tut, liegt ja mein Problem begründet, das Wunderbare an dieser Überfahrt zu erklären.

Jugendstil in Riga

Jugendstil in Riga
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Als wir heute in aller Frühe das Abfertigungsgebäude am Fährhafen von Tallinn betraten, machte ich mich sogleich auf zum gläsernen Schalter. Meine Frage, ob unsere Ausweise zum »Einchecken« auf das Schiff benötigt würden, verneint die junge Dame dahinter lächelnd – sie interessiert sich nur für die Anzahl der Personen in unserer Gruppe. Sie spricht mit mir Englisch, was sonst? Ich brauche also für die paar Sätze, die wir wechseln, keinen Dolmetscher, schon gar keinen, der etwa ins Russische übersetzen müsste. Wieder so etwas wunderbar Selbstverständliches, heute in der Hauptstadt Estlands. Seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten ist Estland – wie auch die beiden anderen baltischen Staaten Litauen und Lettland – nicht mehr Teil des sowjetischen Imperiums. »Kinder Europas aus dessen geschichtsträchtigem Osten«, wie der Dichter Edzard Schaper (1908-1984) die Länder des Baltikums genannt hat, die zurückgekehrt sind nach Europa. Freilich erst nach einer langen Trennung, die ihnen die Teilung der Welt in zwei einander feindlich gegenüberstehende Machtblöcke im Kalten Krieg und schon zuvor der Totalitarismus auferlegt hatten. Als die Rote Armee die geschlagene deutsche Wehrmacht nach dem Debakel von Stalingrad immer weiter gen Westen zurücktrieb, gerieten auch die baltischen Staaten 1944 wieder in den Machtbereich des sowjetischen Diktators Stalin. Die Menschen der baltischen Länder wussten bereits, was das hieß: Schon 1940 hatte mit der Roten Armee auch der sowjetische Geheimdienst Einzug gehalten, nachdem sich Hitler und Stalin kurz zuvor im nach ihnen benannten Pakt (23. August 1939) auf die Aufteilung Ostmitteleuropas in »Interessensphären« verständigt hatten. Natürlich ohne auch nur einen Gedanken an die eigenen Wünsche und Vorstellungen der betroffenen Menschen zu verschwenden. Das Baltikum fiel dabei – wie das östliche Polen – Stalins Reich zu.

Damit endete die kurze Phase der Unabhängigkeit, welcher sich die baltischen Staaten erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 hatten erfreuen können. Die im 19. Jahrhundert erstarkten Unabhängigkeitsbewegungen nutzten den Zusammenbruch des Zarenreichs 1917/18, um aus dem russischen Staatsverband auszuscheren. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts waren die baltischen Territorien in mehreren Etappen unter die Herrschaft des Zaren gekommen, der die teilweise dänische, schwedische oder polnisch-litauische Landesherrschaft ablöste. Der besondere Charakter der »russischen Ostseeprovinzen « war freilich auch unter der Oberhoheit der Romanows erhalten geblieben, die klug genug gewesen waren, die kulturelle, sprachliche und konfessionelle Eigenart der neuen Territorien weitgehend zu respektieren – jedenfalls bis ins späte 19. Jahrhundert hinein. Die Provinzen am »Mare Balticum« unterschieden sich nicht zuletzt im konfessionellen Sinn vom sonstigen, zumeist durch das orthodoxe Christentum geprägten Zarenreich; hier dominierten die protestantischen Kirchen (Estland, Lettland) und die römisch-katholische Kirche (Litauen). Außerdem gab es (weniger in Litauen) eine zahlenmäßig verhältnismäßig kleine, aber wirtschaftlich, politisch und kulturell außerordentlich einflussreiche baltendeutsche Minderheit, welche die Zaren in ihrer herausragenden Stellung im Wesentlichen unangetastet ließen. Zahlreiche Angehörige des baltendeutschen Adels machten sogar im Dienste des Zaren große Karrieren in der Verwaltung und besonders im Militär. Die Baltendeutschen waren zumeist Nachfahren der deutschen Kaufleute und Ritter, die seit dem späten 12. Jahrhundert in den nordöstlichen Ostseeraum gezogen waren und sich dort niedergelassen hatten.

Zwischen dem deutschen und dem baltischen Raum bestand also eine besondere historische Beziehung. An der Beseitigung der noch jungen staatlichen Eigenständigkeit mitgewirkt zu haben, nannte Edzard Schaper – in Ostrowo (Posen) geboren, aber von 1932 bis 1940 in Reval lebend – also mit Recht »eine Todsünde der jüngsten totalitären Vergangenheit Deutschlands «. Nur eine von zahlreichen Todsünden, wie man hinzufügen muss. Zahlreiche Deutsche hatten die seit 1918 selbständigen Staaten der Region zwar schon bald nachdem diese die Unabhängigkeit erlangt hatten verlassen, die endgültige Beseitigung ihrer jahrhundertelangen Präsenz erfolgte jedoch ebenfalls im Kontext des Hitler- Stalin-Paktes, der die Übersiedlung der verbliebenen Deutschen »heim ins Reich« vorsah. Da für die betroffenen Menschen nur die Wahl bestand, in den Machtbereich Stalins oder Hitlers zu geraten, entschieden sich die meisten für die deutsche Option. Der 1944 zurückgekehrte Unterdrückungs- und Verfolgungsapparat des sowjetischen Staates setzte sogleich das 1940 begonnene Werk fort: Es galt die angeblichen »Klassenfeinde« auszumerzen, was nichts anderes bedeutete als die physische Vernichtung oder im besten Falle noch die Verschleppung der kulturellen und politischen Eliten der baltischen Staaten in sowjetische Zwangsarbeitslager. Die schlichte Gedenktafel, die wir bei unserer Stadtbesichtigung an einem der früheren und heutigen Regierungsgebäude in der Tallinner »Oberstadt« passiert haben, mag der Aufmerksamkeit vieler Besucher der Stadt entgehen. Sie ist auch nicht ganz leicht zu verstehen, verzeichnet sie doch im Grunde nur Namen und Lebensdaten von etwas mehr als 60 Personen. Wer sie jedoch (wie wir) kundig erläutert bekommt oder wer sich ein wenig damit auseinandersetzt, der vermag die Dimension der Verfolgung durch den stalinistischen Terror wenigstens zu erahnen. Die Tafel weist unter anderem die Namen von 10 der 11 Mitglieder des letzten estnischen Kabinetts auf, das am 21. Juni 1940 von den sowjetischen Eindringlingen des Amtes enthoben wurde. Lediglich Ministerpräsident Jüri Uluots gelang die Flucht; er starb 1945 im schwedischen Exil.

In Schweden hatte Uluots die erste der estnischen Exilregierungen begründet, die einander bis zur Wiedererlangung der staatlichen Eigenständigkeit Anfang der 1990er Jahre ablösten. Seit 1940 emigrierten etwa 80.000 Esten, 120.000 Letten und 66.000 Litauer, vielfach bis in die USA. Im Falle Lettlands, das 1939 etwa 1,9 Millionen Einwohner hatte, gingen also mehr als 6 Prozent der Gesamtbevölkerung ins Exil. Wie gewaltig dieser Aderlass und wie enorm der Auswanderungsdruck war, wird ersichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zwischen 1933 und 1939 etwa 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches im Zeichen der NS-Diktatur als politisch oder rassistisch Verfolgte ihr Heimatland verließen.

Alle anderen Regierungsmitglieder außer Uluots und darüber hinaus auch der amtierende Staatspräsident Konstantin Päts wurden also 1940 verhaftet. Einige wurden vermutlich sofort ermordet, die anderen in das Lagersystem des »Archipel Gulag« deportiert. Bis auf den ehemaligen Bildungsminister Paul Kogerman hat keiner die Inhaftierung überlebt und konnte in die Heimat zurückkehren. Kogerman durfte bereits 1945 – nach »nur« knapp fünf Jahren Haft – wieder nach Tallinn. Wahrscheinlich erschien er Stalin und seinen Helfern dort nützlicher als in einem Lager, war Kogerman doch ein hochqualifizierter Chemiker, der sich auf die Energiegewinnung aus dem in Estland vorkommenden Ölschiefer spezialisiert hatte. Ölschiefer ist die einzige in größerem Umfang in Estland selbst abbaubare Energieressource. Die restlichen Namen auf der Tallinner Gedenktafel gehören zu Regierungsmitarbeiterinnen und –mitarbeitern unterschiedlicher Hierarchieebenen, die ihrerseits verhaftet und deportiert wurden – die meisten waren schon bis 1942 tot, überlebten also im Schnitt keine zwei Jahre im Lager.

Tatsächlich kamen die seit Mitte 1940 Deportierten aus den baltischen Ländern zu einem – wenn man das mit Blick auf die stets grauenvollen Haftbedingungen überhaupt sagen kann – besonders schlechten Zeitpunkt in die riesigen Komplexe der Zwangsarbeitslager in Stalin Reichs. Im Zuge des »Großen Terrors«, das heißt der gewaltigen Welle von Inhaftierungen und vielfach auch Hinrichtungen jeglicher tatsächlicher oder vermeintlicher politischer Gegner Stalins seit etwa Mitte der 1930er Jahre, waren die Zahlen der Häftlinge und der Lagerkomplexe bereits nach oben geschnellt. 1939 gab es mehr als 60 Lagerkomplexe auf dem Gebiet der ganzen Sowjetunion, in denen etwa 1,3 Millionen Häftlinge gefangen gehalten wurden. Infolge der »Gebietsgewinne« der Sowjetunion durch den Hitler-Stalin-Pakt und der sich anschließenden Verhaftungswellen im östlichen Polen und im Baltikum wuchs die Zahl der Lagerkomplexe rapide bis 1941 auf über 100, die Anzahl der Häftlinge stieg auf rund 1,5 Millionen, den bisherigen Höchststand.

Als Hitler im Juni 1941 der Wehrmacht den Befehl gab, die Sowjetunion anzugreifen, befanden sich demnach mehr politische Häftlinge denn je zuvor in Stalins Lagern. Angesichts des kriegsbedingten Teilzusammenbruchs der Nahrungsmittelversorgung in der militärisch zunächst schwer bedrängten Sowjetunion, die dazu führte, dass auch große Teile der Zivilbevölkerung in den nicht besetzten Gebieten der UdSSR Hunger litten, verschlechterten sich die Haftbedingungen in den Lagern weiter drastisch. Dort ging es ja »nur« um das Leben von »Klassenfeinden«. Die Sterblichkeit in den Lagern war je nach geographischer Lage sehr unterschiedlich, stieg aber seit 1941 insgesamt sprunghaft an. 1942/43 starben im ganzen »Gulag-System« schätzungsweise 250.000 Menschen – zumeist durch Hunger und Krankheit, zahlreiche Häftlinge wurden aber auch nachträglich zum Tode verurteilt und ermordet. Die Todesdaten der estnischen Regierungsmitglieder und –mitarbeiter auf der unscheinbaren Tafel in Tallinn verwundern folglich nicht. Als die Rote Armee 1944 ins Baltikum zurückkehrte – Tallinn fiel am 22. September 1944 wieder in ihre Hände – folgte, wie schon erwähnt, eine erneute Verhaftungswelle. Alexander Solschenizyn (1918- 2008), der selbst als Offizier der Roten Armee wegen stalinkritischer Äußerungen Mitte Februar 1945 in Ostpreußen in die Mühlen des Geheimdienstes geriet und der später der große literarische Chronist des Lagersystems wurde, hat auch die »nationalen Konjunkturen« beschrieben, die sich in der Zusammensetzung seiner Mithäftlinge abbildeten. Im dritten Band seines monumentalen Werkes »Archipel Gulag« schrieb Solschenizyn in dem Kapitel »Die Völkerverschickung «, das die diversen brutalen Vertreibungs- und »Umsiedlungsaktionen « behandelt, welche auf Geheiß Stalins nicht allein die Russlanddeutschen, sondern auch eine ganze Reihe anderer Ethnien in der Sowjetunion trafen: »Das Jahr 1940 brachte dem Baltikum noch nicht die Verschickung, sondern die Lager und für manch einen – die Erschießung in steinernen Gefängnishöfen. Und 1941, beim Rückzug, wurde, soweit die Kräfte reichten, alles geschnappt, was begütert, bedeutend, namhaft war, als wertvolle Beute mitgeschleppt und dann als Dünger auf die froststarre Erde des Archipel geworfen. (Abholen kam man sie immer nur nachts. Hundert Kilo Gepäck stand der ganzen Familie zu, das Familienoberhaupt wurde schon bei der Verhaftung für den Kerker und die Vernichtung abgesondert.) Während des ganzen späteren Krieges drohte man den Balten (über den Leningrader Rundfunk) mit der eisernen Faust der Rache. 1944, nach der Rückkehr unserer Truppen, wurden die Drohungen wahrgemacht, die Verhaftungen hielten reiche Ernte. […] Die wirkliche Verschickung der Balten wurde 1948 vom Stapel gelassen (da kamen die unbotmäßigen Litauer dran), dann 1949 (alle drei Nationen) und 1951 (nochmals die Litauer). […]«

Der Strom der Balten – vor allem Männer –, der sich in die einzelnen Lager des Gulag ergoss, hat die »Lagergesellschaften « verändert. An vielen einzelnen Haftorten bildeten die Litauer, Esten und Letten fest formierte Gruppen, die sich gegen andere Häftlinge abgrenzten. Insbesondere setzten sie sich des öfteren zur Wehr gegen die brutale informelle Herrschaft der kriminellen Lagerinsassen, die vielfach bestrebt waren, die »Politischen« auszunutzen, zu berauben und für sich arbeiten zu lassen. Auch am wohl größten Aufstandsversuch in einem Gulag-Lager waren baltische Häftlinge wesentlich beteiligt: Im Juli 1953 kam es im besonders berüchtigten Lagerkomplex von Workuta im Nordural unweit des Polarkreises angesichts der katastrophalen Arbeitsbedingungen der Häftlinge (zumeist im Steinkohlebergbau) und der unzureichenden Nahrungsmittelversorgung zunächst zu einzelnen Arbeitsniederlegungen, dann zu einem Massenstreik mit Tausenden Beteiligten. Am 01. August 1953 wurde der Streik unter rücksichtslosem Schusswaffengebrauch gegenüber den unbewaffneten Teilnehmern durch Einsatzkräfte des Geheimdienstes brutal beendet. Belegt sind 53 Todesopfer, darunter 15 Litauer, Esten und Letten. Nur ein einziger Russe war unter den Toten, die meisten stammten aus der Ukraine (30). Die Balten waren jedoch deutlich überrepräsentiert.

Der aus Oberschlesien stammende Schriftsteller Horst Bienek befand sich zu dieser Zeit ebenfalls im riesigen Lagerkomplex von Workuta, ohne allerdings unmittelbar am Streik beteiligt zu sein. Der damals erst 21-jährige Bienek war 1951 in Ost-Berlin verhaftet, nach Moskau transportiert und dort wegen angeblicher »antisowjetischer Hetze« zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Bienek hat in seinem erst jüngst erschienenen, zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Erinnerungen an die Lagerhaft nicht zuletzt einem litauischen Mithäftling namens Brauskas ein Denkmal gesetzt. Dieser hat den körperlich nicht sehr kräftigen jungen Mann in seine »Brigade« zur Untertagearbeit mitgenommen – obwohl Bienek in Anbetracht seiner geringen physischen Leistungsfähigkeit eigentlich eine zusätzliche Belastung darstellte. Bienek war überzeugt davon, dass Brauskas so dazu beigetragen hat sein Leben zu retten, denn viele andere »Brigadiere« kannten dergleichen Rücksichten nicht. Zeitweilig ist Bienek im Lager im Übrigen auch zum katholischen Glauben seiner Kindheit zurückgekehrt – und hatte so ein wichtiges verbindendes Band vor allem zu zahlreichen litauischen und polnischen Mithäftlingen.

Die Balten blieben – trotz aller verschärften Repression – ein besonders unruhiges Element im sowjetischen Imperium. Im August 1940 waren die drei bisherigen Staaten Estland, Lettland und Litauen förmlich als »Sowjetrepubliken « in die UdSSR aufgenommen worden, nachdem kommunistische Marionettenregierungen darum »gebeten« hatten. Neben der erwähnten Dezimierung und Verschleppung der Eliten begann rasch die Umwandlung auch der Wirtschaft nach sowjetischem Modell, also die Beseitigung des Privateigentums zunächst im industriellen, dann auch im gewerblichen und landwirtschaftlichen Bereich. Zugleich aber begann auch ein langandauernder Widerstandskampf, der über weite Strecken den Charakter eines Partisanenkrieges hatte. Daneben gab es auch andere Widerstandsformen: Alexander Solschenizyn hat berichtet, dass ihm die Abfassung des »Archipel Gulag« und nicht zuletzt die Rettung von dessen umfangreichen Manuskript vor dem Zugriff des Geheimdienstes in den 1960er Jahren auch dank der Unterstützung baltischer Helfer gelungen ist. Der Este Georgi Tenno, den Solschenizyn während seiner eigenen Lagerhaft (1945-1953) kennengelernt hatte, verschaffte ihm wichtige Kontakte. So kam Solschenizyn zu einem Unterschlupf in einem estnischen Dorf, wo er verhältnismäßig sicher arbeiten und schreiben konnte. Tatsächlich tappte der vermeintlich allmächtige Geheimdienst KGB dank der zuverlässigen Solidarität der Esten zeitweilig im Dunkeln, wo sich der als Regimegegner bekannte Solschenizyn überhaupt aufhielt.

Das Kloster Vadstena in Schweden

Das Kloster Vadstena in Schweden
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Gegen Ende der 1960er Jahre – auch vor dem Hintergrund des »Prager Frühlings von 1968 – begann sich auch in den baltischen Staaten eine Dissidentenbewegung zu formieren. Diese wehrte sich auch gegen die fortschreitende Zurückdrängung der Landessprachen zugunsten des Russischen. Diese wurde allerdings auch durch den seitens des sowjetischen Regimes systematisch geförderten Zuzug von russischsprachigen Zuwanderern in die baltischen Republiken gefördert. So stieg der Anteil der Russen, Weißrussen und Ukrainer etwa in Estland von 8,2 % im Jahre 1934 auf 35,2 % im Jahre 1989. In Lettland stieg deren Bevölkerungsanteil im gleichen Zeitraum gar von 12,1 % auf 42,3 %, in Litauen allerdings lediglich von 2,5 % auf 12,3 %. Der Widerstand gegen die Moskauer Politik richtete sich zunehmend auch gegen die ohne jede Rücksicht auf Umweltschäden vorangetriebene Industrialisierungspolitik der kommunistischen Machthaber.

Kaum verwunderlich ist, dass sich in der 1985 angebrochenen Ära Gorbatschow die Absetzbewegung von der Sowjetunion in den baltischen Republiken rasch verstärkte. Und ebenso wenig verwunderlich ist, dass der 23. August – der Jahrestag des Abschlusses des Hitler-Stalin-Paktes – besondere symbolische Bedeutung hatte. Am 23. August 1987 kam es erstmals zu größeren politischen Demonstrationen – und zwar zeitgleich im estnischen Tallinn, im lettischen Riga und im litauischen Vilnius. In der Weltöffentlichkeit viel beachtet, wurden sie zu Vorboten des Auseinanderbrechens der Sowjetunion. Am 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Paktes am 23. August 1989 kam es zu regelrechten Massendemonstrationen – darunter eine 600 Kilometer lange Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn. Wenig später räumte die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow erstmals die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt mit der darin festgehaltenen Aufteilung der jeweiligen »Interessensphären « förmlich ein und der erst kurz zuvor gewählte »Volksdeputiertenkongress « der UdSSR erklärte den Vertrag am 24. Dezember 1989 ex tunc für nichtig. Dies schürte die baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen massiv, so dass Litauen mit seiner Unabhängigkeitserklärung schon am 11. März 1990 vorpreschte. Die Moskauer Führung versuchte den Ablösungsprozess der baltischen Länder zu verhindern, erreichte aber lediglich dessen Verzögerung. Da die Organisatoren der Unabhängigkeitsbewegung und die Masse der Demonstrierenden konsequent auf Gewaltlosigkeit setzten, blieb der Prozess weithin unblutig. Wie explosiv die Lage jedoch tatsächlich war, zeigte das brutale Vorgehen der sowjetischen Sicherheitskräfte beim Versuch, Litauen an der Umsetzung seiner Unabhängigkeitserklärung zu hindern und am 13. Januar 1991 das Fernseh- und das Parlamentsgebäude in Vilnius zu besetzen. 14 unbewaffnete Demonstranten kamen dabei ums Leben.

Unmittelbar nach dem rasch zusammengebrochenen Moskauer Putschversuch gegen Gorbatschow am 19. August 1991 erklärten auch Lettland und Estland ihre Unabhängigkeit und erlangten sehr schnell danach die diplomatische Anerkennung durch zahlreiche westeuropäische Staaten und die USA. Am 6. September 1991 beugte sich dem auch die Sowjetunion, deren förmliche Auflösung rund drei Monate später folgte. Die Aufnahme Litauens, Estlands, und Lettlands in die Vereinten Nationen am 17. und 18. September 1991 setzte den Schlusspunkt unter die Wiedererlangung von deren nationaler Unabhängigkeit – mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Besetzung durch die Rote Armee im Juni 1940.

Einfahrt nach Stockholm

Einfahrt nach Stockholm
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Wieder ganz »Kinder Europas aus dessen geschichtsträchtigem Osten« wurden die drei baltischen Staaten mit ihrer Aufnahme in die Europäische Union in der ersten Runde von deren »Osterweiterung « im Mai 2004. Sie erfüllten nunmehr die von der EU zugrunde gelegten, bereits 1993 gegenüber beitrittswilligen Staaten formulierten »Kopenhagener Kriterien«: Stabile, konkurrenzfähige Marktwirtschaft, Einverständnis mit den politischen Zielen der Union und den Regeln der Wirtschafts- und Währungsunion, stabile Institutionen zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, insbesondere Minderheitenschutz. Letzterer Punkt war nicht leicht einzulösen, da es zwischen den überwiegend in sowjetischer Zeit Zugewanderten und der baltischstämmigen Mehrheitsbevölkerung zeitweilig erhebliche Spannungen vor allem im Bereich der Sprachen- und Schulpolitik gab. In jüngerer Zeit haben sich die Verhältnisse jedoch beruhigt.

Mit dem Beitritt zu den Schengener Abkommen sind auch bei allen drei baltischen Staaten ab dem 21. Dezember 2007 die Grenzkontrollen zu den anderen Ländern des Schengen-Raumes weggefallen – bis hierhin müsste ich gelangen, um unseren jungen Mitreisenden auf der weiterhin ruhig auf Helsinki zugleitenden »Viking XPRS« zu erklären, dass sich gerade Wunderbares vollzieht. Wir überqueren die Ostsee an einer Stelle, an der sich noch vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten die Machtblöcke des Kalten Krieges bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden. Wir machen eine Überfahrt, die für die allermeisten Menschen in der Stadt, in der wir uns so selbstverständlich ohne Ausweiskontrolle eingeschifft haben, vor 20 Jahren noch ein unerreichbarer Traum war. Niemand hat sich heute Morgen für die Nationalität der Passagiere interessiert; wir sind gewiss nicht die einzigen Deutschen an Bord, und die jungen Leute, sind das nun Finnen, Esten, Schweden? Ich weiß es nicht. Es tut ja auch nichts zur Sache – Bewohner Schengen-Europas eben.

Als Edzard Schaper 1952 seinen leidenschaftlichen Appell an die von der Geschichte begünstigten Westeuropäer formulierte, die baltischen Länder, die damals hinter dem »Eisernen Vorhang« des totalitären kommunistischen Regimes der Sowjetunion verschwunden waren, nicht zu vergessen, schrieb er auch: »Nirgends auf der Welt ist Glanz, Größe und Tragik Europas von so wenigen Menschen in der Menschheitsgeschichte auf so kleinem Raum vorgelebt und vorgelitten worden wie in den baltischen Landen.« Wie recht er hatte und hat: Das Zusammenleben der Angehörigen verschiedener Völker im vormodernen Ostseeraum, der noch nicht im nationalstaatlichen Sinne organisiert war, als die hansischen Kaufleute aus Westfalen, aus Lübeck, Stralsund oder Danzig nach Riga oder Reval segelten, dort ihre Verwandten oder Geschäftspartner aus Turku, Stockholm oder Kopenhagen (wohin unsere Reise weitergehen sollte) trafen, die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Kulturraum, den die Dome in Lübeck, Frauenburg/ Frombork, Königsberg/Kaliningrad, Riga, Tallinn/Reval, Turku und Stockholm noch heute versinnbildlichen, die Zerstörung jahrhundertealter Verbindungen im Zeichen nationalistischer Verengungen, der blutige Horror des Totalitarismus, schließlich aber auch der Ruhm einer nahezu völlig gewaltfreien Freiheitsrevolution – all das findet sich brennglasartig in der Geschichte der baltischen Staaten. Sie gehören zu uns, den Kindern Europas.

Ach herrje, da müsste ich den jungen Leuten hier um mich herum aber eine lange Vorlesung halten, um all das zu erklären, das Wunderbare an der europäischen Gegenwart, das wunderbar bleibt, Euro-Krise hin, Euro-Krise her. Ob sie Lust und Interesse hätten, die anzuhören? Hoffentlich. Vielleicht fragen sie sich ja auch eines Tages, warum eigentlich auf den Euro-Scheinen, die sie jetzt zücken, um ihren Einkauf im Duty free-Shop zu bezahlen, Baustile abgebildet sind – etwa weil sie die gotischen Spitzbögen auf dem 20-Euro-Schein nicht nur in den eben genannten Domkirchen in Deutschland, Polen, Lettland, Estland, Finnland und Schweden wiederfinden können, sondern auch im Wiener Stephansdom, im Kölner Dom, in Notre Dame de Paris, im Veitsdom auf dem Prager Hradschin, in der Westminster Abbey in London oder im Wallfahrtskirchlein im vorpommerschen Bodstedt oder im Kirchlein auf dem Streichen, das aus meinem heimatlichen Chiemgau hinüberlugt ins Tirolische, das nur einen Steinwurf entfernt beginnt, oder in sonst weiß Gott wievielen (Dorf-)Kirchen und Domen eben in ganz Europa… Das muss doch irgendwie zusammengehören, oder?

Mögen sie nur irgendwann danach fragen, die jungen Leute. Dann nämlich machen sie sich auf nach Europa und fahren nicht nur herum im grenzenlosen Schengen-Raum. Meinen Mitreisenden brauche ich vieles nicht zu erklären, sie haben ja diese zuweilen auch ein wenig strapaziöse Reise auf sich genommen, weil ihnen an Europa und den Tiefen und Höhen seiner gemeinsamen Geschichte liegt. Das wird spätestens in dem Moment deutlich, da wir in Tallinn auf der berühmten »Sängerwiese« stehen, wo die massenhaft besuchten estnischen Sängerfeste stattgefunden haben (und noch stattfinden), die besondere Bedeutung im Rahmen der »Singenden Revolution « hatten, die zur weitgehend friedlichen Ablösung von der Sowjetunion führte. Unsere litauische Reiseleiterin fordert uns auf, doch auch etwas zu singen. Und die Gruppe entscheidet sich spontan für die Melodie, die seit 1972 beziehungsweise 1985 als Europahymne dient. Sie »repräsentiert nicht nur die Europäische Union, sondern auch Europa im weiteren Sinne«, sie bringt »die europäischen Werte Frieden, Freiheit und Solidarität zum Ausdruck«, wie es auf der Internetseite der Europäischen Union heißt. Dies wenn auch ohne den deutschen Text. Wir aber verzichten nicht auf Friedrich Schiller:

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt.
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.