Reiseberichte

Backsteingotik an der Ostsee

von | April 2012 | Reiseberichte

Die St.-Nikolai-Kirche ist die älteste der drei großen Pfarrkirchen der Hansestadt Stralsund. (Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Von Lübeck bis zur Marienburg

St. Johannes Kathedrale in Cammin

Die St. Johannes Kathedrale in Cammin, Westpommern (Polen).
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Nach oben, alles zieht den Blick des Eintretenden nach oben. Ein Mensch mit wachen Sinnen, der eine dieser Kirchen betritt, kann sich dem Sog der lichten Höhe, die sich nach dem Durchschreiten des Portals jenseits der Orgelempore jäh öffnet, gar nicht entziehen. Alles hier strebt himmelwärts, will sich lösen von der Erde. Will Abglanz sein des Paradieses, Verheißung.

Nicht alle erreichen die schwindelerregende, von keiner anderen gotischen Kirche je übertroffene Gewölbehöhe der Lübecker St. Marienkirche von 38,5 Metern, doch viel fehlt da zumeist nicht. Rund 30 Meter lichtdurchströmte Luft über den Häuptern der Besucher erreichen sie alle, die Kirchen auf unserem Weg. Welch ein architektonischer Wagemut, welch ein entschlossener ästhetischer Wille hinter dem Bau dieser gewaltigen Bethäuser stand, können wir Heutigen nur schwer ermessen. Denn unser Blick ist verstellt durch die Höhenrelationen und technischen Möglichkeiten der modernen Architektur. Wir müssen uns erst klarmachen, dass die meisten profanen Zweck- und Wohnbauten, die zeitlich nah zu diesen Kirchen entstanden sind, ohne weiteres auch in deren Innenraum gestellt werden könnten – ohne dass ihre Dachtraufen auch nur in die Nähe der Stern- oder Kreuzrippengewölbe kämen.

Kathedrale Mariä Himmelfahrt und St. Andreas in Frauenburg

Die Kathedrale Mariä Himmelfahrt und St. Andreas ist eine Kirche in Frombork (dt. Frauenburg) in Ermland-Masuren.
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Überhaupt sind wir Gegenwärtigen, gewissermaßen, Analphabeten was die unglaubliche Fülle der Zeichen- und Bildersprache dieser Kirchen angeht. Wir müssen sie uns erst erarbeiten, übersetzen, und wahrscheinlich gelingt das nur sehr unvollkommen, wenn man weniger als ein Leben daran setzt. Denn sie sind ja Werke von Generationen von Menschen, von denen die nächste selbstverständlich (man muss dieses Wort beim Wort nehmen) weiterschuf, was sie von der vorangehenden übernahm. Zwischen uns und ihnen liegt freilich der Abgrund der Moderne, in dem zwar nicht der Glaube als Ganzes, wohl aber ein Großteil seiner Bildhaftigkeit versunken ist. Daher fehlt uns die Selbstverständlichkeit dieser Bauten und unserem Blick muss geholfen werden.

Das beginnt eben schon bei den Größenverhältnissen. Vielleicht erweist sich uns da der stolze überkommene Name der Danziger St. Marienkirche als hilfreich: die »Krone Danzigs«. Vielleicht hilft es, diese Kirche zuerst aus der Ferne zu erblicken: Da krönt sie die Stadt in der Tat noch immer, da wird ihre überragende (wir nehmen das Wort wieder wörtlich) Bedeutung deutlich. Oder wir scheuen nicht die mehr als 400 Stufen und besteigen den Turm der St. Marienkirche und werden in rund 80 Metern Höhe von einem wahrhaft krönenden Blick über die Stadt belohnt.

 

Lübecker Marienkirche

Die Lübecker Marienkirche (St. Marien zu Lübeck) gilt als „Mutterkirche der Backsteingotik“.
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Diese Kirchen waren in den alle sonstigen Grenzen der Baukunst ihrer Entstehungszeit sprengenden Dimensionen Glaubenszeugnisse – und, natürlich, Prestigeprojekte. Vermutlich konnten nicht einmal die Bauherren selbst beide Motivstränge eindeutig voneinander scheiden. Klar ist: Diese Kirchen waren Zeichen, Zeichen für die Überzeugungsmacht des christlichen Glaubens, aber auch Zeichen für die ökonomische Macht der Städte, die sie sich selbst schenkten (und nicht etwa von einem mächtigen Fürsten »geschenkt« bekamen).

Keineswegs zufällig waren die Städte, die wir im Verlauf unserer Reise »Auf den Spuren der Backsteingotik« besucht und deren architektonische Prunkstücke wir bewundert haben, nahezu allesamt einstmals Hansestädte. Angefangen natürlich mit Lübeck, der zeitweilig wohl mächtigsten aller Hansestädte, über Rostock, Stralsund, Greifswald, Stettin, Cammin, Kolberg, Stolp bis hin nach Danzig, das nach Reichtum, Macht und Pracht hinter Lübeck gewiss nicht zurückstand. Schon das Band der Hanse verknüpfte also die Städte miteinander, man machte Geschäfte und auch Politik miteinander – und man ließ Reichtum und Macht in ähnlicher Weise nach außen hin sichtbar werden.

 

Kathedralbasilika der Himmelfahrt der Allerheiligsten Jungfrau Maria

Die Kathedralbasilika der Himmelfahrt der Allerheiligsten Jungfrau Maria (bis 1945 Oberpfarrkirche St. Marien) in Gdańsk (dt. Danzig).
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Die Errichtung der gewaltigen Backstein- Kirchen der Gotik ist in den einzelnen Städten nicht zufällig in zeitlicher Nachbarschaft betrieben worden: Der Bau von St. Marien in Lübeck, der »Mutterkirche der Backsteingotik«, wurde um 1250 in Angriff genommen und ein Jahrhundert später in der Hauptsache abgeschlossen. Das war die Vorgabe für die nicht minder stolzen Bürger Danzigs, die den Bau ihrer Marienkirche veranlassten, als in Lübeck die Errichtung von St. Marien noch nicht ganz vollendet war. Die »Krone Danzigs« erreichte nicht die Gewölbehöhe des Lübecker Vorbilds (»nur« 30 Meter), dafür übertrifft sie ihre Lübecker Schwesterkirche mit einer Gesamtlänge von 105 Metern um etwa 2,5 Meter. St. Marien in Stralsund wiederum, begonnen in den letzten Jahren des 13. Jahrhunderts, ist »nur« 100 Meter lang, dafür ist ihr Gewölbe aber etwa 2,5 Meter höher als das der »Krone Danzigs«. Aber es ging ihren hauptverantwortlichen (und in der Hauptsache bezahlenden) Bauherren aus der Gilde der Gewandschneider auch in erster Linie darum, die Dimensionen von St. Nikolai in der eigenen Stadt in den Schatten zu stellen. Denn die sich »vornehmer« dünkenden patrizischen Handelsherren, die St. Nikolai als »Ratskirche« (dementsprechend in unmittelbarer Nähe des Rathauses) seit etwa 1270 errichten ließen (nach dem Vorbild von St. Marien in Lübeck, was sonst?) saßen in ihrem prächtig geschnitzten Gestühl unter einem Gewölbe von »nur« 29 Metern Höhe, mehr als drei Meter niedriger als das der nur wenige Fußminuten entfernten St. Marienkirche der Gewandschneider. Die sorgten auch dafür, dass »ihre« Turmspitze sich mit 151 Metern in für damalige Verhältnisse ungeheuerliche Höhe reckte und dementsprechend den nur etwas mehr als 102 Meter erreichenden Wetterhahn des Südturmes von St. Nikolai klein erscheinen ließ. Die ehrgeizigen Bauherren von St. Marien bezahlten dies allerdings damit, dass der erste Turm 1382 – vermutlich aufgrund von Konstruktionsmängeln – einstürzte und dabei Teile des bereits fertigen Langhauses zerstörte. Der unverdrossen und unerschrocken sofort danach erfolgende Neubau des Turmes hat in seiner Wucht und Stärke keine Parallele in der Backsteingotik. Der Eindruck, den der Eintretende nach dem Durchschreiten des Portals in der dem eigentlichen Kirchenschiff vorgelagerten Turmhalle erhält, ist wahrhaft atemberaubend. Die heute sichtbare, nach einem Brandschaden 1708 fertiggestellte barocke Turmhaube erreicht allerdings auch nur noch 102 Meter Höhe.

St. Marien Domkirche zu Kolberg

Der Kolberger Dom, bis 1945 St.-Marien-Domkirche zu Kolberg
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Der Bau dieser gigantischen Kirchen war nicht zuletzt eine logistische Meisterleistung: Die »Bauhütten«, Gemeinschaften hochspezialisierter und -qualifizierter Bautechniker und –künstler, welche im Auftrag der Bauherren die Errichtung vornahmen, mussten nicht nur – gut – bezahlt, sondern auch ständig mit ausreichenden Materialmengen versorgt werden. Das Formen und Brennen von vielen Hunderttausenden qualitativ hochwertiger Backsteine, ein technisch durchaus komplizierter Prozess, musste zeitgerecht durchgeführt und koordiniert werden, das notwendige Bauholz (dessen Qualität nicht minder entscheidende Bedeutung für die Beständigkeit der Bauten hatte) musste besorgt werden. Wären da nicht versierte Verwaltungs-, Handels- und Finanzfachleute am Werk gewesen, wären diese Bauten wohl kaum zustande gekommen. Aber gerade hierin lagen ja die Stärken der hansischen Kaufleute. So ließen sie zuweilen die für den Bau der Fundamente erforderlichen (weil im Unterschied zum Backstein gegen die aus dem Boden aufsteigende Feuchtigkeit unempfindlicheren) Natursteine als Ballast in den Bäuchen ihrer Handelsschiffe aus Schweden über die Ostsee schaffen, eine praktische und kostengünstige Lösung. Oder sie entwickelten nicht zuletzt für die naturgemäß auch finanziell höchst anspruchsvollen Bauvorhaben kreative Abwicklungsformen. So bezahlten die Stralsunder Gewandschneider den Darlehensgebern für den Bau »ihrer« Marienkirche Leibrenten; manch einer sicherte also sein Alter durch die Unterstützung des frommen Werks in klingender Münze. Und die Trauer der Gewandschneider mag sich insgeheim in Grenzen gehalten haben, als eine Pestepidemie sie unerwartet rasch von einem Teil ihrer Verpflichtungen befreite …

Greifswalder Dom St. Nikolai

Der Greifswalder Dom St. Nikolai ist das Wahrzeichen der Stadt Greifswald.
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Die Kirchen der Backsteingotik waren mithin anspruchsvolle Gemeinschaftsunternehmungen differenzierter und leistungsfähiger, auch in enge Kommunikations- und Wirtschaftsbeziehungen mit anderen, ähnlichen Kommunen eingebundener städtischer Gesellschaften. Sie sind Wahrzeichen hansestädtischen Selbstbewusstseins und Bürgerstolzes. Welcher Fürst weit und breit hatte eine Kirche wie St. Marien in Danzig? Sie sind Zeugnisse der Tatsache, dass der Ostseeraum im hohen und späten Mittelalter ein, modern gesprochen, boomender Wirtschaftsraum war. Die Entwicklung der Schiffstechnik (Erhöhung der Seetüchtigkeit und Ladekapazität), die Verbreitung der Schrift (die Kaufleute waren die ersten, die ihre Kinder, nein: ihre Söhne Lesen und Schreiben lernen ließen, und hatten dabei ganz und gar nicht die Absicht, sie ausschließlich auf eine geistliche Laufbahn vorzubereiten), die Durchsetzung bargeldloser Zahlungsmethoden (ungemein praktisch war es, unbelastet von zentnerschweren Münzgeldmengen reisen zu können, darüber hinaus ungleich sicherer), die Annäherung der Rechtssysteme (Ausbreitung des lübischen Rechts beinahe im ganzen südlichen Ostseeraum), die Verbesserung der Sicherheitslage (die Hanse konnte, wenn sie musste, auch Krieg führen, lästige Störenfriede wie Klaus Störtebecker wirkungsvoll beseitigen, und sogar mächtige Fürsten wie den König von Dänemark in die Schranken weisen), die Herausbildung überterritorial organisierter (und gerade nicht »nationalstaatlich « begrenzter) Gemeinschaftsformen (eben der Hanse und anderer Städtebünde) mit Koordinierungs- und Schlichtungsmechanismen für gleichgerichtete oder konfliktträchtige Interessen: All dies und einiges mehr an »modernen«, zuvor hinderliche Begrenzungen des frühen Mittelalters sprengenden Faktoren steht auch hinter den imposanten Zeugnissen der Backsteingotik.

St.-Marien-Kirche in Stralsund

Die St.-Marien-Kirche ist die größte Pfarrkirche der Hansestadt Stralsund. (Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Es fährt also jede Menge Geschichte mit, politische, Sozial- und Wirtschafts-, Kulturgeschichte zumal, auf unserem Weg von Lübeck durch Mecklenburg, Vor- und Hinterpommern und Westpreußen nach Danzig und weiter noch ein Stückchen hinein nach Ostpreußen beziehungsweise ins Ermland. Geschichte, die deutlich werden lässt, dass der durchmessene geographische Raum durch viele historische Fäden verbunden ist, Fäden einer geschichtlichen und kulturellen Zusammengehörigkeit, die erst das verhältnismäßig junge, unglückselige Trugbild des Nationalstaates als vermeintlich geschichtlich allein legitimierter und idealer Form der Vergemeinschaftung von »Völkern « (schon die Fiktion angeblich nachweisbarer ethnischer Abgrenzungen und Eigenarten konnte der Realität Europas niemals wirklich gerecht werden), erst dieses Trugbild schnitt diese Fäden ab oder verdeckte sie zumindest. Wir wollen sie wieder aufnehmen und ihnen folgen, den Fäden der historisch begründeten, den Schrecken und Verbrechen des 20. Jahrhunderts zum Trotz noch immer vorhandenen historischen Zusammengehörigkeit.

Und staunend stehend im Angesicht all der prachtvollen Kirchen und anderer Zeugnisse der Backsteingotik ist das gewiss leichter als nur in der Theorie.

 

Die Marienkirche der Ordensburg Marienburg

Die Marienkirche der Ordensburg Marienburg wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und wurde etappenweise restauriert.
(Foto: Prof. Dr. Winfrid Halder)

Die Reise hat in Lübeck begonnen. Auf dem Boden des Südturms liegen noch heute die geborstenen Reste zweier Glocken des ursprünglichen Geläuts. Sie hingen mehrere Jahrhunderte dort in 60 Meter Höhe und riefen zum Gottesdienst. Im März 1942 fielen Bomben auf die Kirche – ausgerechnet von oben herab kam die Zerstörung, von oben, wohin die ganze Kirche gerichtet war und Segen erflehte seit so langer Zeit. Die mächtigen Eichenbalken, welche die Last der Glocken seit der Errichtung der Kirche sicher gehalten hatten, vergingen rasch im Feuer. Mit einem letzten dröhnenden Klang stürzten die Glocken, umloht vom Funkenregen des brechenden Gebälks, herab. Dort liegen sie, zerschmettert und stumm geworden, unverändert als Mahnung zum Frieden. Und eine solche Mahnung stellt auch die letzte Backstein-Kirche dar, die wir auf dieser Reise besuchen: St. Marien in der Marienburg. Anstelle der prächtigen, hoch aufragenden und Ehrfurcht einflößenden Gewölbe bietet sich dem in die Höhe gerichteten Blick hier nur eine glatte Betondecke dar. Die ist notwendig, sie schützt den Rest der Kirche, deren Innenraum erhalten, aber von schwerer Verwüstung geprägt ist. Die Gewölbedecke, einst – wie alte Abbildungen zeigen – auch aufwendig bemalt, ist verschwunden. Auch hier kam die Zerstörung von oben, während des Kampfes um Stadt und Burg zwischen Wehrmacht und Roter Armee seit Ende Januar 1945, durch Bomben und Granaten, gleichviel.

Die insgesamt schwer zerstörte Marienburg ist seit 1945 durch die verantwortlichen polnischen Instanzen in vorbildlicher Weise wiederaufgebaut worden. Deutsche Hilfe hat streckenweise dazu beigetragen. Die vollständige Wiederherstellung der Marienkirche in der Burg steht indessen aus. Wir hoffen, dass sie als polnisch-deutsches Gemeinschaftsunternehmen vollzogen werden wird, damit auch dieses Zeugnis der Backsteingotik (wie so viele andere zerstörte, aber wiedererstandene Kirchen, die wir besuchten) seine alte Form wiedergewinnen mag. Joseph von Eichendorff, der große schlesische Dichter, hat als preußischer, zeitweilig in Danzig tätiger Beamter wesentlich mitgeholfen, die vom vollständigen Verfall bedrohte Marienburg zu retten und deren erste Wiederherstellung im 19. Jahrhundert in die Wege zu leiten. Im Jahre 1844 schrieb er, die Bemühungen um die Rettung dieses architektonischen Kleinods seien so wichtig, »damit wir an der großen Vergangenheit die Bedeutung erkennen, welche seine Wiederherstellung für die Gegenwart hat.« Dem ist nichts hinzuzufügen.